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Jens Asthoff
Das nicht endende Bild
In diesen Bildern, so scheint es, liegt alles offen zutage: Man sieht komplexe Abstraktionen aus Linien- und Pattern-Strukturen, strikt flächig komponierte Bildgewebe jenseits jeden gegenständlichen oder perspektivischen Illusionsraums. Konkrete Malerei und ein entschiedenes „What you see is what you see!“1, könnte man meinen. In der Malerei von Christof John (*1984 in Hannover, lebt und arbeitet in Köln) überlagern und durchdringen einander zumeist kleinteilige Elemente, die sich, flächenübergreifend, in rhythmisch-visuellen Mikrostrukturen verdichten. Aus den motivischen Texturen schimmern immer wieder Andeutungen serieller Kompositionsprinzipen durch, so auch bei den hier gezeigten Großformaten aus dem Jahr 2022 Ohne Titel (Ticket XVII/1), Ohne Titel (Ticket XVII/2) und Ohne Titel (Ticket XVII/3). Felder ineinander greifender Dreiecke breiten sich darin aus,
unterbrochen, teils auch unterfüttert von flächendeckenden Quadratgefügen, in die wiederum parallel geführte, verschieden breite Liniencluster hineinverstrickt sind. Die in einem jeweiligen Bild gesetzte Serialität geht jedoch nirgends bruchlos auf, und spätestens die unterschiedlich aus der Horizontalen gekippten Quadrat- und Linienpattern widersprechen formalistischen, übergreifend seriellen Bildlogiken. Eher verfugen und steigern sich die Pattern hier in Überblendungen und gegenläufigen Dynamiken zum schlüssig inkommensurablen Ganzen.
Das führt in eine paradoxe Wahrnehmungslage: Zwar stehen einem die Bildmittel hier jederzeit klar vor Augen, doch je länger man sich in Christof Johns Gemälden schauend orientiert, desto stärker gerät eben diese Orientierung und mit ihr die gesamte kompositionelle Ordnung ins Oszillieren und Schwanken – was vom subtil gesetzten Kolorit aus wenigen, aufeinander abgestimmten Farbtönen noch weiter getriggert wird. Es ist, als würden uns diese Bilder eine eigentümliche Diskrepanz zwischen Sehen und Begreifen vor Augen führen – nicht als abstrakte Bildaussage, sondern unmittelbar als ästhetische Erfahrung. Es ist kaum möglich, die Vielschichtigkeit der Kompositionen, die man im Einzelnen von jedem Punkt aus nachverfolgen kann, auch insgesamt zu erfassen und visuell zusammenzuführen; immer wieder verschwimmen Vorder- und Hintergrund für den Halt suchenden Blick – und das heißt eben auch: Immer wieder zeigt das Bild sich neu. Die ausdrücklich flächig komponierte Malerei öffnet sich für die Wahrnehmung überraschend ins Mehrdimensionale. Was sich hier zeigt, beschreibt der Künstler selbst als den Gedanken eines „nie endenden Bildes“, der ihn inspiriert und antreibt: Das Bild als Teil eines komplexeren Gesamtgefüges, aus dem sich „eine Sequenz wie eine Haut auf den Bildträger niederlegt“. Und ergänzt im Gespräch, „dass das einzelne Werk bestenfalls die Kraft [hat], dass man es nie zu Ende sehen kann, dass man vielleicht nie dahinter kommt oder immer wieder rausgeschmissen wird.“2
Die Seherfahrung vor Johns Malerei beschreibt das eigentlich recht gut. Für den Künstler resultiert daraus eine Offenheit des Bildes auf die Betrachter hin. Das zeigt sich auch im Umgang mit dem Kolorit: Während sich die Farbfelder seiner Gemälde in dichten Überlagerungen und Verzerrungen zu formieren scheinen, zeigt sich auf den zweiten Blick, dass die Farben dabei zumeist unvermischt nebeneinander gesetzt sind und folglich erst im Auge des Betrachters entstehen.
So minutiös die Bilder auch ausgearbeitet sind, versteht John seine Malerei aus der Interaktion: Für den eigentlichen Bildeindruck seien die betrachtenden Menschen „eine wichtige Variable, die meine Arbeit komplettiert“ 3 , so der Künstler.
Bei den drei Ticket XVII-Bildtafeln und einem weiteren in der Ausstellung präsentierten Großformat Ohne Titel (Ticket XV/4) (2023) verrät bereits der Titel, dass sie Teil einer übergreifenden Serie sind. John beginnt die Arbeit an dieser Werkgruppe im Jahr 2019, derzeit reicht die Reihe bis Nummer XIX.
Einzelne Verzweigungen seien „mal unterschiedlicher, mal gebe es auch größere Überschneidungen“. Oder wie im Fall der ausgestellten Bilder Ticket XVII/1–3 auch „so etwas wie Unterkapitel beziehungsweise konkrete Geschwister.“ Was diese umfangreiche, in sich vielgestaltige und bisher unabgeschlossene Serie eint, sei die „durchgängig ähnliche Arbeitsweise“ (dazu später mehr) und auch, so John, dass sie mit einem Wandel in seiner künstlerischer Haltung4 einherging. Zudem, der Titel legt es nahe, verbindet alle eine gemeinsame Referenz: Tatsächlich basieren sie auf dem Fehldruck einer Fahrkarte, die dem Künstler zufällig in die Hände fiel. Als Sujet hat er das immer weiter entfaltet, und es ist charakteristisch für Johns künstlerischen Blick, dass ihm diese komplexen Muster, Wasserzeichen etc. mitsamt der Fehlstellen gerade an einem banalen Alltags- und Wegwerfartikel wie einer Fahrkarte auffielen, die man ja meist gar nicht so genau betrachtet.
Der Fehldruck hat „etwas bei mir ausgelöst,“5 sagt er, „statt Streifen waren da teils Kästchen zu sehen, darunter einfach das Papier der Fahrkarte, das ebenfalls kleine Zeichnungen hatte. Darin fand eine überraschende Struktur statt, und wie sich die Ebenen da übereinander gelagert haben, wurde das zu einem Ausgangspunkt der Serie.“ Das Fundstück wird jedoch nicht direkt und als solches zum Motiv gemacht, eher fungiert es als Impuls, der zu eigenständigen, komplett abstrakten Bildern einer ganzen Werkgruppe führt. Dennoch, Abstraktion ist bei Christof John stets imprägniert von Wirklichkeit und keine selbstreferentielle, nur in sich ruhende ungegenständliche Malerei. „Es hat alles einen weltlichen Bezug“, was darin umgesetzt sei, sagt er, „und ich meine, dass man das auch an manchen Stellen spürt, selbst wenn es nicht zu greifen ist, wo etwas herkommt.“
Solche Realitätsverwobenheit zeigt sich auch im Malprozess selbst. John setzt darin nicht etwa vorab ausgedachte Bildkonzepte um, vielmehr entwickelt er die Gemälde im Prozess, der auch für ihn selbst überraschend und unabsehbar bleibt und in dem er ein hohes Maß an Präzision mit Zu- und Einfällen verbindet.6 Johns Genauigkeit ist präzise jenseits einer bloß rationalen Perfektion, eine Art von Exaktheit, die für ihn „etwas mit Menschsein und einer gewissen Wärme zu tun“ hat. Man sieht das, und es zeigt sich übrigens auch in einer speziellen „Fehlerkultur“ des Künstlers: kleinere Unsauberkeiten oder Eigendynamiken des Materials im Malprozess können sich, so John, „zu Geschenken wandeln, die die Arbeit beseelen und lebendig machen.“7 Obgleich nicht alle, natürlich, denn auch dies unterliegt künstlerischer Intuition und Entscheidung. Doch John begrüßt sie eher, als sie tunlichst zu vermeiden, und bindet diese Haltung in die Bildkonzepte ein: „Linien können Laufmaschen bekommen,“ sagt er, „jede ist ein Individuum, nicht technisch perfekt wie aus dem Plotter.“
An Originalen wird diese Art „gewachsener Präzision“ und malerischer Sinnlichkeit viel deutlicher als etwa in fotografischen Abbildungen der Gemälde. Unmittelbar vor dem Werk sieht man genauer, dass die komplexen Gefüge seiner Malerei von feinen Unregelmäßigkeiten durchsetzt sind: Farbspuren, Verwischungen, gelegentlich Fingerabdrücke oder zarte Bleistiftlinien einer Vorzeichnung, die in der Malerei dann doch anders weitergeführt wurde als gedacht. Umso verblüffender dann, wie sehr das Auge all das übereinanderzublenden weiß.
Tatsächlich beginnt John meist mit dem Bleistift und dem skizzenhaften Einkreisen einer Struktur auf grundierten MDF-Bildtafeln. Von dort aus arbeitet er die Bilder mit Öl- und Acrylfarben in vielfältig variierten geometrischen Grundformen wie Quadrat, Kreis, Dreieck weiter aus. Die Elemente werden auf verschiedenen Ebenen und Unterebenen angelegt, zwischen denen zudem Verzerrungen und Verschiebungen
stattfinden. Schablonen benutzt John jedoch nicht, und es ist nicht zuletzt diese in der Präzision kaum ahnbare Handschriftlichkeit, die seinen Bildern einen speziellen Vibe verleiht. Bei vielen Arbeiten, etwa auch bei der Ticket-Serie, maskiert er im letzten Schritt die gesamte Bildfläche mit Folie und arbeitet mit dem Skalpell in diese hinein.
Auf diese Weise stellt er feine Linien frei, die anschließend das Bild überziehen, nutzt also ein plastisch-zeichnerisches Werkzeug für nachfolgend malerische Zwecke.
So werden die Bilder im Malprozess zu Individuen, zu „Wesen“, wie er sagt. Das ist erneut nicht esoterisch zu verstehen, es sind nur eben keine seriell-formalen Werke – trotz oft großer Ähnlichkeit im Bildaufbau. Daraus folgt für John auch, die Arbeiten ganzheitlich zu sehen, als Bildobjekte also, bei dem der Träger mehr als bloß eine Bühne für Farbe ist. In diesem Sinne weist er darauf hin, dass „ein Bild, auch wenn es viereckig ist, tatsächlich ja sechs Seiten hat – wobei die sechste halt zur Wand zeigen würde.“ Diese Aufmerksamkeit fürs Objekthafte erkennt man bei den Ticket-Bildern beispielsweise daran, dass auch die Seitenränder farbig gefasst sind. In derselben Logik arbeitet John teils auch mit unregelmäßig geformten Bildkörpern, die in dieser Ausstellung aber nicht zu sehen sind.
Kleinere Formate wie die beiden hier gezeigten Ohne Titel (2023, 2024) betonen den Objektcharakter durch bemalte Sockelelemente, die die Bildfläche von der Wand abheben. So erkenne man, „dass es auch eine Rückseite hat bzw. hat ein größeres Verständnis davon,“ sagt John. Diese Auffassung vom Objektcharakter ist nicht zu verwechseln mit dem in der Kunst etablierten Konzept des Shaped Canvas, bei dem, so der Künstler, normalerweise „erst die Form stattfindet und dann die Malerei.“ Er selbst möchte das organischer denken, bei ihm gibt es keine Hierarchisierung der Materialien, und so kann sich der Bildgrund durchaus mit dem Malprozess verändern, indem „am Ende doch noch ein Loch oder eine Ecke reingeschnitten wird,“ so John.
Die beiden Kleinformate Ohne Titel weisen über einer mehrschichtig farbig-abstrakten Bildebene in einem Fall wenige, im anderen Fall dagegen dicht gefügte gestische Setzungen auf. Hier wird die Farbe Schwarz malerisch so inszeniert, dass sie die „eigentliche“ Malereiebene wie eine Bildstörung überlagert, teils sogar löscht.
Das ist für John charakteristisch nicht nur deshalb, weil er hier den „Fehler“ als eigenständiges kompositorisches Element inszeniert – und ästhetisch durchaus erfolgreich integriert. Malerisch ist das auch darüber hinaus interessant, weil sich da kaum zwischen den konträren malerischen Gesten, dem Auftragen und dem Wegwischen, unterscheiden lässt: So erkennt man zum einen zwar Ausläufer feiner Borsten, auch der Pinselduktus ist spürbar. An anderer Stelle aber wurde das Schwarz offenbar mit dem Finger bzw. einem Tuch gewischt oder getilgt. So sind hier beide malerischen Handlungsformen performativ inszeniert und auch untrennbar vermischt.
Das für Christof John typische Motiv von Fehler und Bildstörung bleibt hier knapp unterhalb des Eindrucks von gestalteter Form – und weitet sich zugleich zu einer Art irregulärem Ornament, das mit der darunterliegenden farbigen Bildebene vielfältig korrespondiert. Form und Auflösung von Form kommen einander nahe.
1 So die lakonische Formel des US-Malers Frank Stella, der sich in den 1960er-Jahren mit minimalistischen Bildtafeln auf formale Mittel der Malerei konzentriert und sich damit auch gegen semantische Überhöhungen eines Abstrakten Expressionismus gewandt hatte; zit. n.: Bruce Glaser, Questions to Stella and Judd, in: Art News, Vol. 65, No. 5. September 1966, S. 59.
2 E-Mail-Gespräch zwischen Christof John und dem Autor vom 1. September 2024. Christof John führt den Gedanken eines nie endenden Bildes dort noch in anderer Hinsicht weiter aus: Das habe damit zu tun, dass „ich meine künstlerische Arbeit auch als etwas Spirituelles begreife, allerdings nicht im esoterischen oder religiösen Sinne“, so John. Zwar sei da ein konkretes Werk von ihm an der Wand, doch vielleicht bestehe „die eigentliche Kunst zwischen dem Werk und mir und umgibt mich. Das Werk wäre dann „vielleicht eher so etwas wie ein Gefäß, das gefüllt wird. Bestenfalls ist das Gefäß aber immer zu klein, und die Kunst sprudelt über und braucht mehr Platz.“
3 Statement des Künstlers, August 2024, unpubliziert.
4 Bis dahin hatte John Gemälde bewusst als Einzelwerke konzipiert, er verbot sich die Wiederholung einmal verwendeter Farb- oder Formkombinationen. Erst mit der Arbeit an der umfangreichen Ticket-Serie begann er, die ganze Deutungsweite auszuloten, die in einem Sujet liegen kann, und beschreibt dies als Befreiung im kreativen Prozess. „Dieses Ausarbeiten hatte weniger mit Wiederholung zu tun als mit dem Öffnen immer weiterer Türen“. In diesem Sinne ist die Serie offen – was nicht heißt, dass sie nicht irgendwann beendet werden kann.
5 Christof John am 29. August 2024 in einer Sprachnachricht an den Autor.
6 John selbst beschreibt dies so: „Auch wenn bei Beginn einer Arbeit so etwas wie ein Plan existieren kann, ist die Offenheit im Prozess sehr wichtig. Gibt es zum Beispiel eine Zeichnung als Vorlage, hat diese eher den Charakter einer Telefonzeichnung, sie ist nicht ausformuliert. Wäre die Zeichnung ausformuliert, hätte ich das Gefühl, die Form wäre schon verbraucht.“, s. Anm. 3.
7 Siehe Anm. 5; alle folgenden Zitate stammen aus dieser Quelle.
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